Ein Gastbeitrag von Dr. rer. med. Franz-Werner DIPPEL
Seit Jahren steigt die Anzahl übergewichtiger und fettleibiger Kinder in Deutschland an. Laut den Ergebnissen der zweiten Welle der KIGGS-Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) sind derzeit 9,5 % der Kinder und Jugendlichen (3 – 17 Jahre) übergewichtig, 5,9 % sogar adipös. Das entspricht etwa 2 Mio. übergewichtigen und ca. 800.000 adipösen Kindern (1).
Mediziner und Ernährungswissenschaftler machen dafür unter anderem die intensive Vermarktung von Süßigkeiten und Softdrinks durch die Lebensmittelwirtschaft verantwortlich. Zahlreiche wissenschaftliche Studien geben ihnen jetzt recht! Kürzlich erschienen zwei von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Auftrag gegebene systematische Übersichtsarbeiten. Beide belegen eindeutig, dass Werbung für ungesunde Lebensmittel das Ernährungsverhalten (Vorlieben, Auswahl, Kaufentscheidung) von Kindern prägt, und den Verzehr von Süßigkeiten und Softdrinks erhöht (2, 3).
So zeigt die von Boyland et al. durchgeführte Metaanalyse einen statistisch hochsignifikanten Zusammenhang zwischen Lebensmittelwerbung und Nahrungsaufnahme bei Kindern und Jugendlichen. Eine Verstärkung der Werbung verursacht eine Zunahme des Konsums (Standardisierte Mittelwertdifferenz 0.25; 95 % Konfidenzintervall 0.15 – 0.35; p-Wert < 0.001). Der Gesamteffekt war robust gegenüber zahl-reichen Störgrößen, wie in Sensitivitäts- und GOSH-Analysen gezeigt werden konnte (3). Die Studienautoren kommen übereinstimmend zu der Einschätzung, dass der dauerhafte Konsum stark zucker-, fett und salzhaltiger Süßwaren mittelfristig zu einer Fehlernährung führt und langfristig die Entwicklung von Übergewicht und nicht übertragbaren Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen fördert.
Auf Basis der vorliegenden wissenschaftlichen Evidenz sprechen sich die Autoren der beiden Reviews einhellig für staatliche Maßnahmen zur Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung für ungesunde Lebensmittel aus. Werbung zielt darauf ab, das Verhalten der Konsumenten zu beeinflussen. Wenn es um ungesunde Lebensmittel geht und sie auf eine leicht zu beeinflussende Gruppe abzielt, ist dies besonders bedenklich. Alle Selbstverpflichtungsmaßnahmen der Süßwarenindustrie haben bisher keinen Erfolg gebracht. Für Lebensmittelwerbung, die sich an Kinder richten, ist ein freiwilliger Ansatz deshalb nicht zielführend. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, hat Bundesernährungsminister Cem Özdemir deshalb am 27.03.23 einen Gesetzentwurf zur Einschränkung der Werbung für ungesunde Kinderlebensmittel vorgelegt (4).Wesentliche Inhalte sind:
- Werbeverbote in „allen für Kinder relevanten Medien“ zwischen 6 und 23 Uhr
- Außenwerbung auf Plakaten für ungesunde Produkte im Umkreis von 100 Metern um Schulen, Kitas, Spielplätze und Freizeiteinrichtungen für Kinder.
- An Kinder gerichtetes Sponsoring für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt.
Zukünftig dürfen also nur noch solche Lebensmittel an Kinder vermarktet werden, die den Nährwertkriterien der Weltgesundheitsorganisation entsprechen (5). Für das geplante Gesetz ist eine Übergangsfrist von zwei Jahren vorgesehen.
Die Reaktion der Süßwarenlobby hat nicht lange auf sich warten lassen. In der Pressemitteilung des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI) vom 28.02.23 behauptet deren Hauptgeschäftsführer Dr. Carsten Bernoth, es existierten keine wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit von Werbeverboten auf die Entwicklung von kindlichem Übergewicht (6). Diese Äußerung ist zynisch und unrichtig!
Die deutsche Süßwarenindustrie ist nicht gerade dafür bekannt, gesunde Produkte herzustellen. Süßwaren zeichnen sich i.d.R. durch einen hohen Gehalt an reinem Zucker, industriell verarbeiteten Fetten sowie zahl-reichen Zusatzstoffen aus. Sie gehören damit zur Gruppe der hoch verarbeiteten Fertigprodukte und sind nach Ansicht zahlreicher medizinischer und ernährungswissenschaftlicher Fachgesellschaften nicht für den täglichen Verzehr geeignet. Es handelt sich vielmehr um Lebensmittelspezialitäten im Rang von Genussmitteln, die besonderen Gelegenheiten vorbehalten bleiben sollten.
Der menschliche Organismus ist genetisch nicht auf den regelmäßigen und dauerhaften Konsum von Süßwaren und Softdrinks ausgelegt. Mit der Zeit versagen seine Regulationsmechanismen und er reagiert mit Übergewicht und Fettleibigkeit. Übergewicht seinerseits stellt schließlich den Nährboden für zahlreiche Zivilisationserkrankungen dar. Somit ist es eigentlich an der Süßwarenindustrie, die gesundheitliche Unbedenklichkeit ihrer Produkte nachzuweisen (Beweislastumkehr).
Mit der geplanten Werbeeinschränkung durch den Bundesernährungsminister werden die Süßwaren nicht vom Markt verschwinden, ihr Konsum könnte dadurch aber auf ein vertretbares Maß reduziert werden.
Selbst der Discounter Lidl hat angekündigt, ab dem 1. März die auf Kinder abzielende Werbung für ungesunde Süßwaren einzustellen. Ausgenommen davon bleiben lediglich Sonderaktionen, z.B. zu Weihnachten und Ostern. Lidl setzt damit als erster deutscher Lebensmitteleinzelhändler eine entsprechende Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) um (7).
Andere Länder greifen härter durch. In Mexiko ist es z.B. seit 2014 nicht zulässig, in TV und Kino problematische Produkte an Kinder zu vermarkten (8). Kanada hat bereits 1980 ein Gesetz erlassen, das Werbung für Fast Food und Spielzeug an Kinder unter 13 Jahren in gedruckten und elektronischen Medien verbietet (9). Laut einer Studie der University of British Columbia wurde infolge des Werbeverbots 13 Prozent weniger Fast Food konsumiert (10).
Seit 2016 gibt es auch in Chile strenge gesetzliche Auflagen zur Kennzeichnung und Vermarktung von Lebensmitteln. Danach müssen alle Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett, Kalorien oder Salz ganz deutlich auf der Vorderseite des Produktes gekennzeichnet werden. Alle so gekennzeichneten Produkte dürfen zudem nicht mehr in Schulen verkauft werden. Tagsüber zwischen 6 und 22 Uhr darf für derartige Produkte keine Fernsehwerbung mehr ausgestrahlt werden. Auch gezielte Werbung für unter 14-Jährige ist verboten. Sämtliche Comic-Helden und Zeichentrickfiguren sind von den Verpackungen verschwunden. Dank dieser Maßnahmen geht die Fettleibigkeit in Chile kontinuierlich zurück (11).
Es besteht also kein Zweifel daran, dass Werbung das Konsumverhalten und damit die Gesundheit von Kindern nachhaltig beeinflussen kann. Der deutsche Gesetzgeber sollte sich der vorliegenden Evidenz anschließen und dem guten Beispiel anderer Staaten folgen, zum Wohl unserer Kinder.
Dr. rer. med. Franz-Werner DIPPEL (franz-werner.dippel@t-online.de)
Quellen
- Schienkiewitz A et al. Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. J Health Monitoring 2018; 3: 6-23
- Systematic review of the effect of policies to restrict the marketing of foods and non-alcoholic beverages to which children are exposed. Obesity Reviews. 2022; 23: e13447. wileyonlinelibrary.com/journal/obr 1 of 21. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/obr.13447
- Association of Food and Nonalcoholic Beverage Marketing With Children and Adolescents’ Eating Behaviors and Health. A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Pediatr. 2022; 176(7): e221037. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35499839/
- https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/024-lebensmittelwerbung-kinder.html
- WHO 2012: Set of recommendations on the marketing of foods and non-alcoholic beverages to children. https://www.who.int/publications/i/item/9789241500210
- https://www.bdsi.de/pressemeldungen/details/plaene-von-bundesminister-oezdemir-bedeuten-ein-totalverbot-von-suesswarenwerbung/
- https://www.presseportal.de/pm/58227/5412648
- Théodore FL, Tolentino-Mayo L, Hernández-Zenil E, et al. Pitfalls of the self-regulation of advertisements directed at children on Mexican television. Pediatr Obes. 2017;12(4): 312-319. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/ijpo.12144
- Clark CR. Advertising Restrictions and Competition in the Children’s Breakfast Cereal Industry. https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/519820
- Dhar T, Baylis K. Fast-Food Consumption and the Ban on Advertising Targeting Children: The Quebec Experience. https://journals.sagepub.com/doi/10.1509/jmkr.48.5.799
- Dillman Carpentier FR, Correa T, Reyes M, Taillie LS. Evaluating the impact of Chile’s marketing regulation of unhealthy foods and beverages: pre-school and adolescent children’s changes in exposure to food advertising on television. Public Health Nutr. 2020; 23(4): 747-755. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31822317/