Ernährungstrends – Lifestyle vom Teller (Gastbeitrag)

Vor einigen Jahren machte ein fiktiver WhatsApp-Chat-Trend die Runde. Mama fragte: „Was soll es zu Weihnachten zu essen geben?“ „Kein Fleisch“, kam die spontane Antwort der Tochter. „Kein Gluten“, so der Sohn. „Nichts mit Milch“ wollte das Nesthäkchen. „Was Ordentliches“ wollte der Papa. Die Antwort der Mama kam prompt. Sie verließ die Gruppe.

Was hier als Anekdote daher kommt, ist wahrscheinlich in vielen Familien Alltag. Da sitzt eine muntere Mischung aus Vegetariern unterschiedlichster Couleur, Veganern, Kohlenhydratfreunden und -vermeidern, Glutenbesorgten und Laktoseintoleranten am Esstisch und will nicht nur individuell versorgt werden, sondern nutzt die Zusammenkunft auch gern dazu, die jeweilige Einstellung vehement zu verteidigen

Noch schwieriger wird es, Gäste zu bewirten. Kaum ein Gastgeber traut sich noch, ungefragt das auf den Tisch zu stellen, was in der Vergangenheit allen geschmeckt hat. Da wird im Vorfeld heftig gegoogelt, wie ein Kuchen denn ohne Mehl und Eier herzustellen ist, wie man die fleischlose Currywurst aufpeppen kann, damit auch die Fleischliebhaber zufrieden sind und ob man sich die Veganer zum Feind macht, wenn der Spinat mit einem klitzekleinen Blubb verfeinert wird. Sollte dazu noch ein Paleo-Vertreter mit seinen vermeintlichen Steinzeitgenen am Tisch sitzen, dann wird die Speiseplanung endgültig zur Quadratur des Kreises.

Wir befinden uns mit unseren diversen Essvorlieben mitten in einem Glaubenskrieg, der zuweilen religiöse Züge aufweist. Natürlich können wir uns das nur leisten, weil wir aus dem Vollen schöpfen können. Wir Deutschen jammern gerne auf hohem Niveau. Wenn zu viel von allem da ist, dann liegt wohl die individuelle Erlösung im Verzicht und das Heil in der asketischen Hinwendung zum „frei von“ und mit „ohne“.  

Wir könnten uns jetzt zurücklehnen und darauf hoffen, dass das alles irgendwann vorbei ist und alle wieder vernünftig werden. Das kennen wir doch. Noch vor wenigen Jahren waren es die Light-Produkte der Niedrigkalorien-Ära, die unsere Lebensmittelregale bis zum Überdruss füllten, oder das „frei von Cholesterin“-Label, das sogar Produkte zierte, die von Natur aus kein Cholesterin enthalten. Seit fast alle Haushalte im World Wide Web unterwegs sind, sind die beiden Blockbuster anderen Vorlieben gewichen. Sie kommen heute in der Maske des Proteinboosters und Fatburners daher. Nicht zu vergessen all die von weit her eingeführten Exoten, die als Superfood den heimischen Produkten den Rang ablaufen.

Wie sollen wir denn jetzt mit diesem Wirrwarr umgehen? Wir könnten uns weiterhin in den Disput um die Milch der frommen Denkungsart stürzen. Wir könnten den Vegetariern vorhalten, das wir nur einen Magen haben und nicht vier. Wir könnten die Veganer warnen, dass sie mit ihrem Essen nicht alle Nährstoffe aufnehmen, die ihr Körper dringend braucht. An dieser Stelle macht sich immer die Geschichte von der jungen Mutter gut, die die gesunde Entwicklung ihres Babys riskiert hat, weil sie es anstelle von (tierischer!) Muttermilch mit pflanzlicher Ersatzmilch ernährt hat. Wir könnten dem Steinzeit-Freund viele tausend Jahre Kulturentwicklung vorhalten. Wir könnten die vermeintlich Laktose- und Gluten-Intoleranten darauf hinweisen, dass nur ein geringer Teil der Weltbevölkerung unter diesen Erscheinungen zu leiden hat… Ja, wir könnten. Erfahrungsgemäß führen diese sinnlosen Grabenkämpfe zu nichts. Das liegt wohl auch daran, dass heute niemand von uns sicher sein kann, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Die Eskimos essen nur Fisch, Robbenfleisch und Fett, weite Teile der asiatischen Bevölkerung stützen sich auf Reis und Gemüse. Zur Zeit begreift sogar die medizinische Forschung, dass es offenbar keine allgemein gültigen Ernährungsregeln für alle gibt.

Zu Zeiten meiner beruflichen Beratungstätigkeit war Veganismus noch nicht im Trend. Die wenigen Veganer, die es damals gab, waren die „ganz Harten“. Sojaleberwurst, Käse ohne Milch, mit Seitan angereicherte Fertigmahlzeiten und all dieser Schnickschnack waren damals noch nicht einmal angedacht. Der erklärte Veganer ernährte sich von naturbelassenem Gemüse, Getreide, Kartoffeln, Obst und Nüssen. Ich gebe zu, dass ich  – wenn sich so jemand in meine Praxis verirrte – innerlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen habe. Es war eine große Herausforderung, einem vegan eingestellten Diabetiker ein kohlenhydratarmes Essen zusammen zu stellen, das dabei hätte helfen können, die verordneten Diabetes-Medikamente zu reduzieren. Kurz gesagt, ich pflegte gegenüber extremen Essvorlieben eine erklärte Antihaltung und kann im Nachhinein nur hoffen, dass ich das meine Patienten nicht allzu sehr habe merken lassen.

Im Januar 2017 veröffentliche Dr. Friedhelm Mühleib in der VDOE-Position ein Interview mit der österreichischen Ernährungswissenschaftlerin und Trendforscherin Hanni Rützler. Das hat mich sozusagen „kalt erwischt“ und mich dazu gebracht, meine Haltung gründlich zu überdenken. Inzwischen kann ich den guten Willen hinter extremen Essvorlieben sehen, der nicht nur die individuelle Gesundheit, sondern häufig auch den Wunsch einbezieht, unsere Welt ein wenig besser zu machen. Menschen, die ihre Bequemlichkeit opfern, um unsere Zukunft zu verbessern, haben eh seit jeher meine Hochachtung.

Aber zurück zum besagten Interview mit Hanni Rützler. Demnach seien unsere Teller ein Spiegel der jeweils herrschenden Kultur. Diese scheine sich zur Zeit – zumindest in den vom Überfluss gekennzeichneten Weltteilen – tiefgreifend zu verändern. Hanni Rützler untersucht seit vielen Jahren gemeinsam mit Matthias Horz, dem deutschen Zukunftsforscher und Leiter des Zukunftsinstitutes, die Entwicklungen rund um Lebensmittel, Essen und Trinken im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels. Sie definiert Food-Trends als Lösungsversuche für reale Probleme und unterscheidet die diversen Ernährungsmoden in Megatrend, Trend, Trendphänomen und Gegentrend. Demnach entstehen Trends immer in kleinen Gruppen hochgradig vernetzter Menschen mit großem Engagement für das jeweilige Thema. Rützler interessieren besonders „… die Antworten, die diese Kernzellen der Veränderung für aktuelle Themen, Probleme und Sehnsüchte finden“.

Zu den großen Antriebskräften des gesellschaftlichen Wandels gehören aus Sicht der Trendforschung Individualisierung, Vernetzung, Globalisierung, Bildung und der Wandel der Arbeitswelt. In 2015 hat das Zukunftsinstitut Sicherheit und Gender in die Liste der Megatrends aufgenommen. Hinter dem Bedürfnis nach Sicherheit beim Essen und Trinken stehe das zunehmende Misstrauen gegenüber der industriellen Lebensmittelproduktion und der Wunsch nach Kontrolle.

Jeder Trend ziehe immer auch einen Gegentrend nach sich. So sei die Antwort auf die zunehmende Globalisierung die Hinwendung zur Regionalität. Bei den großen Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit und Ressourcen hätte unser heutiger Fleischverzehr schlechte Karten. Beim Fleisch, des Deutschen liebstem Gemüse, vollziehe sich zur Zeit ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel. Fleisch sei auf dem besten Weg, seine jahrhundertelange Rolle als Leitsubstanz auf unseren Tellern an das Gemüse abzutreten.

Bei den „frei von“- Produkten im Zuge des Megatrends Gesundheit  geht es dagegen nach Ansicht der Zukunftsforscher um Kontrolle. So stehe hinter Glutenfrei nicht eigentlich die Sorge um die Bekömmlichkeit des Weizenklebers, sondern viel eher das Misstrauen gegenüber der enormen Konzentration beim globalen Weizenanbau. Nach Rützler “…befinden wir uns momentan im Übergang vom spätindustriellen Zeitalter zum Wissenszeitalter“. Dabei sei nicht die Frage zu stellen, was als nächstes weg gelassen, sondern was danach kommen werde.

Was aber machen wir jetzt mit der brennenden Frage, wie wir denn an unseren heimischen Esstischen mit all diesen Trends und Paradigmenwechseln umgehen können? Dem Beispiel der Zukunftsforscherin folgend könnten wir die diversen Essvorlieben unserer Tischgäste als die Suche nach Lösungen für drängende gesellschaftliche Probleme begreifen. Damit nehmen wir eine zugewandte Haltung gegenüber Meinungen ein, die nicht unbedingt unsere eigenen sind. Allein das wird die Dispute am Esstisch wahrscheinlich sofort entschärfen. Die Tochter lebt vegan, der Sohn verzichtet auf Kohlenhydrate und verträgt keine Milch? Der Partner will das, was Muttern schon immer so gekocht hat? Kochen wir alle Mahlzeitenkomponenten einzeln und stellen sie als Zutaten auf den Tisch. So kann sich jeder das nehmen, was er oder sie zu brauchen meint. Wir könnten auch unsere Gäste bitten, ihre Lieblingsspeisen mitzubringen und die anderen Gäste davon kosten zu lassen. Vielleicht findet ja die Fleischliebhaberin Gefallen am Avocadopudding des veganen Tischnachbarn. Wie auch immer, bleiben wir dankbar und gelassen und warten gespannt auf das, was uns die Zukunft auf die Teller legt.

Quelle: Hanni Rützler im Gespräch mit Dr. Friedhelm Mühleib: Von der Sehnsucht nach Neuem. VDOE POSITION Heft 01-2017

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