Wahrscheinlich haben Sie noch nie darüber nachgedacht, was uns die Mormonengrille zu sagen hätte, wenn sie sprechen könnte. Zugegeben, ich habe das auch nie getan. Bis zu dem Tag, an dem mir „Der Ernährungskompass“ von Bas Kast in die Hände fiel. Man glaubt es kaum, aber die Fressgewohnheiten der Mormonengrille werfen ein grelles Licht auf die des Homo sapiens.
Anno 2001 zog sich eine Freundesclique aus Oxford in ein Alpenchalet zurück. Nicht etwa, um Ski zu fahren oder sich sonst wie sportlich zu betätigen. Sie trafen sich zum „all you can eat“. Sie als Leser ahnen natürlich, dass das nicht “just for fun“ war. Das Ergebnis dieser Völlerei sollte als Pilotstudie einen Meilenstein in der Geschichte der Übergewichtsforschung markieren. Zuvor hatten die Insektenforscher Stephen Simpson und David Raubenheimer bei den Mormonengrillen in den Graslandschaften im Westen der USA eine seltsame Entdeckung gemacht. Diese Grillen ziehen – wie es alle Heuschrecken tun – im Frühjahr auf der Suche nach Futter durch die Lande. Mit dem Unterschied, dass sie dabei keine kahl gefressene Landschaft hinterlassen.
Mormonengrillen sind sehr wählerisch. Sie fressen nicht alles, was ihnen vor die Fühler kommt. Sie bedienen sich bevorzugt bei Pusteblumen, den Blättern von Hülsenfrüchten, Aas, Kot und aneinander. Unterstützt wird ihr Kannibalismus durch den starken Autoverkehr auf den Highways. Wird ein Artgenosse überfahren, kümmern sich seine Kumpels sofort um seine vollständige Entsorgung und werden dabei ebenfalls zu Milliarden überfahren, was sie ihrerseits zu hervorragenden Proteinlieferanten für die überlebenden Artgenossen macht. Denn das fanden die beiden Forscher heraus: Es geht der Mormonengrille um die Deckung ihres Proteinbedarfes.
Nun gut, so weit gehen wir Menschen nicht. Was also hat das mit uns zu tun? Tatsächlich zeigte die Studie im Alpenchalet, dass wir Menschen ebenfalls so lange essen, bis unser Proteinbedarf gedeckt ist. Die Gruppe, der ein proteinreiches Essen vorgesetzt wurde, aß weitaus weniger als diejenige, die sich am eiweißarmen Buffet bediente. Interessant. Aber was ist das Bahnbrechende an dieser Entdeckung? In unserer Überflussgesellschaft gibt es doch für alle genug zu essen.
Um das zu erklären, müssen wir etwas ausholen. Sie kennen das. Sie sitzen auf der Couch vor dem abendlichen Fernsehprogramm. Neben Ihnen reißt jemand eine Chipstüte auf und beginnt, den Inhalt genüsslich zu verspeisen. „Ich nicht“, denken Sie. „Nicht heute und nicht jetzt“. „Crumbsch crumbsch“, tönt es neben Ihnen. Es dauert nicht lange und alle Dämme sind gebrochen. Sie greifen auch in die Tüte. Und was passiert? Sie essen so lange, bis die Tüte leer ist. Naja, das kennt man ja. Schuld sind die Geschmacksverstärker, die uns dazu bringen, ohne Hunger immer weiter zu essen. Stimmt. Aber wie machen die das?
Geschmacksverstärker wie Glutamat schmecken nach Fleisch. Das ist dieser typische Umami-Geschmack, der uns eine wohl gefüllte Schlachteplatte vorgaukelt, auch wenn von echtem Fleisch nur marginale Mengen im Spiel sind. Fleisch bedeutet für uns Protein. Davon brauchen wir täglich bestimmte Mengen zum Leben. Wir essen von einer Mahlzeit so lange, bis wir – genau wie die Mormonengrille – die Proteinmenge intus haben, die wir brauchen.
Da dürfte es doch kein Problem geben. Eiweißmangel kann doch in unserer hoch industrialisierten Welt nicht an der Tagesordnung sein. Genau da liegt unser Denkfehler. Viele von uns ernähren sich hauptsächlich von industriell verfertigen Lebensmitteln. Die tricksen uns allerdings gerne vor, dass sie alles enthalten, was wir brauchen. Mit beispielsweise einer Hühnersuppe aus der Tüte haben Sie allenfalls ein fünftausendstel Huhn auf dem Teller. Das Glutamat darin gaukelt aber vor, dass genau das drin ist, das drin wäre, wenn Sie die Suppe selbst gekocht hätten. Das wären pro Person ein viertel Huhn, eine halbe Stange Porree, eine Möhre und alles, was in eine echte Hühnersuppe hineingehört. Bei der Tütensuppe kommt das aber nicht und deshalb versucht der normale Esser, solange weiter zu löffeln, bis er auf seine Kosten gekommen ist. Mit einer Tütensuppe wird das allerdings nie gelingen.
Übrigens gilt das für so gut wie alle industriell vorgefertigten Lebensmittel. Für die Rentabilität wird das Protein der Zutaten verdünnt und dann durch Geschmacksverstärker geschmacklich aufgewertet. Ohne diesen Trick würden wir den geringen Einsatz von wertgebenden Bestandteilen sofort bemerken. Das Problem ist dabei, dass wir trotzdem auf unsere Eiweißmenge kommen müssen. Da hilft nur, weiter zu essen, bis der Arzt kommt oder selbst zu kochen. Da wissen Sie, was drin ist. Mit einem fünftausendstel Huhn geben Sie sich in Ihrer eigenen Küche sicher nicht zufrieden. Stimmt´s?
Literatur:
- Bas Kast. Der Ernährungskompass. Bertelsmann, München 2018
- Hans-Ulrich Grimm. Die Suppe lügt. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/M 1997