Gastbeitrag: Vegetativer Stress

Was Menschen gerne essen, wird in der Hauptsache von ihrem vegetativen Zustand bestimmt. Die einen brauchen fettarme Kartoffeln, um sich wohl zu fühlen, die anderen fettige Buletten. Je nachdem, zu welchem vegetativen Typ jeder Einzelne tendiert, bekommt das eine oder das andere besser. Erst kürzlich habe ich durch eine junge Kollegin erfahren, dass heute (wie auch damals zu meinen Zeiten) die Funktionen des vegetativen Nervensystems Gegenstand der ernährungswissenschaftlichen Ausbildung sind. Was allerdings immer noch fehlt (damals wie heute) ist das Wissen darum, was man damit in der Praxis anfangen kann.

Das vegetative Nervenkostüm

Unser vegetatives Nervenkostüm wird durch zwei gegeneinander arbeitende Nervenstränge bestimmt, die – bedingt durch Helligkeit und Dunkelheit – unsere biologische Uhr und unsere Leistungskurve steuern. Das parasympathische System regt die Drüsenproduktion an und verhilft zu Verdauung und Entspannung. Das sympathische System setzt die Drüsenfunktion herab, hebt den Blutdruck, steigert die Aggressivität und polt uns auf „Jagd“. In den frühen Morgenstunden werden wir durch den aktivierenden Sympathikus aus dem Bett geholt, zum Highnoon beschert uns der entspannende Parasympathikus das Mittagstief, am Nachmittag hilft der Sympathikus noch einmal auf die Sprünge und bei Sonnenuntergang zwingt der Parasympathikus auf das Bärenfell. Diese vegetativen Tagesschwankungen bestimmen über die Regulierung unserer hormonellen und intermediären Interaktionen, indem sie als Taktgeber der Hypophyse die Ausschüttung bestimmter hormonstimulierender Stoffe fördern bzw. unterdrücken. Sie regulieren den Blutdruck und die Verdauungsleistung, bestimmen Wachstumsprozesse, das Wirkoptimum von Medikamenten und nicht zuletzt den im Tagesverlauf schwankenden Blutzucker sowie den Insulinbedarf. In den sympathisch bestimmten Tageszeiten sind der Insulinbedarf und Blutzucker hoch, in den parasympathisch bestimmten Zeiten dagegen niedrig.

Gleichzeitig zu diesen biologisch vorgegebenen Tagesrhythmen geben wir durch das, was wir tun, zusätzliche Impulse auf eines der beiden Systeme. Während zu Steinzeiten die vegetative Polung auf Leistung oder Entspannung noch die jeweiligen Tageshandlungen bestimmte, sind wir heute häufig zu vegetativen Unzeiten auch während des Mittagstiefes im beruflichen Stress und oft noch bis tief in die Nacht auf der Zapp-Jagd durch sämtliche Fernsehkanäle oder beruflich auf Nachtschicht. Wer über viele Jahre hinweg das vorgegebene biologische Leistungsprogramm mit gegenläufigen Impulsen attackiert, kann aus dem vegetativen Gleichgewicht kommen und – je nach individueller Prägung – in die sympathische oder parasympathische Überreizung geraten. Diese steht dann als „vegetative Dystonie“ auf der Krankschreibung und sorgt dafür, dass der Betroffene zwar nicht krank ist, sich aber dennoch nicht wohl fühlt und häufig von seinen medizinischen Behandlern nicht ernst genommen wird. Im vegetativen Gleichgewicht hat keines der beiden Systeme die Oberhand. Wir fühlen uns wohl, können entspannt schlafen oder konzentriert arbeiten, je nachdem, was gerade gebraucht wird.

Hurtig Kinder, kommt zu Tisch

Auch das, was wir essen oder trinken, wirkt durch spezifische Impulse auf das vegetative Nervensystem. Blutzucker erhöhende Kohlenhydrate, Koffein und Alkohol aktivieren den Parasympathikus und sorgen für eine verstärkte Drüsenproduktion, merkbar am verstärkten Speichelfluss. Proteine aktivieren den Sympathikus, Fett hat auf beide Seiten eine stabilisierende Wirkung. Für beide vegetativen Typen ist es wichtig, zu wissen, wie sie mit Überreaktionen gezielt umgehen können. Es geht darum, das jeweils überreagierende Nervensystem mit bestimmten Nahrungsmittel-Impulsen zu stabilisieren oder zu drosseln. Dabei gibt unser Appetit auf Süßes oder Deftiges vor, was zu tun ist. Isst man das Richtige, verschwindet der Stress, isst man das Falsche, wird der Stress verstärkt (1).

Wohl jeder kennt diese Situation: Von einem ausgiebigen Kaffeekränzchen kommend, bei dem man sich vorgenommen hatte, heute Abend nichts mehr zu essen, führt der erste Weg beim Nachhausekommen zum Kühlschrank. Jetzt wird etwas Deftiges gebraucht, um die parasympathische Überflutung durch die vorangegangenen Kohlenhydrat-Impulse zu dämpfen. Schon nach einem Rollmops oder einem kleinen Stück Käse, also einem Protein-Fettgemisch, ist die Welt wieder in Ordnung. Oder diese Beobachtung: Ein typisches Festtagsessen mit Gänsebein, Rotkohl und Kroketten sollte eigentlich den Hunger konsequent gestillt haben. Was aber, wenn Gastgeberin oder Gastgeber direkt im Anschluss an diese Völlerei fragen, ob es noch ein Eis sein darf? Klar, man braucht jetzt etwas Süßes, um die sympathische Wirkung des fett- und proteinbetonten Essens abzufedern. Mit einer Tasse Kaffee oder einem Schnaps würde das auch funktionieren.

Krank oder nur nicht gesund?

Prüfungssituationen, Hektik, Angst oder Ärger sorgen immer für vegetativen Stress. Auch   Probleme wie unklare Magen- und Darmbeschwerden, chronische Schmerzzustände, Kreislaufstörungen, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten gehen häufig allein auf vegetative Störungen zurück. Eines der beiden Nervensysteme arbeitet zu stark und führt zu spezifischen Symptomen. Klagt ein Patient über starken Speichelfluss, chronische Magenübersäuerung, Übelkeit oder unerklärlichen anhaltenden Durchfall; hat er in Stress-Situationen „Schiss in der Hose“ und kann die Hitze im Sommer nicht vertragen, so kann man zunächst davon ausgehen, dass er ein entgleister Parasympathiker ist. Rät man in diesem Fall zu einer kohlenhydratreichen, fettarmen Ernährung wie sie in Diabetesschulungen propagiert wird, schickt man den Betroffenen auf einen langen Leidens- und Krankheitsweg. Bei vegetativer Entgleisung hilft diesem Typ sehr schnell ein Protein-Fett-Gemisch, ein Teelöffel Butter oder Öl, ein kleines Stück Salami oder fetter Käse. Zu diesem Entgleisungstyp gehört nach meiner Beobachtung übrigens auch ein großer Teil der Typ 2-Neuzugänge in Diabetiker-Schulungen. Wenn diejenigen hochglykämische Kohlenhydrate essen, katapultieren sie sich mit jeder Mahlzeit erneut in ihre spezielle Entgleisung. Das wird besonders schlimm, wenn sie dem Rat folgen, häufige kleine fettarme Zwischenmahlzeiten zu sich nehmen. Wählen sie dagegen ein kohlenhydratreduziertes, fettreicheres Essen und essen zu den Zwischenmahlzeiten „in der Not die Wurst auch ohne Brot“, geht es ihnen sofort besser. Nicht selten können sie bei diesem Vorgehen auf Blutzucker-senkende Medikamente verzichten oder sie zumindest reduzieren (2). In extremen Fällen kann es sogar angezeigt sein, zu einer kurzzeitigen Diät zu raten, wie sie den rigiden Vorstellungen des seligen Herrn Atkins entspricht (siehe Fallbeispiel 1 im Download für Mitglieder). Ein solches fettreiches, sehr kohlenhydratarmes Essen bringt einen schwer entgleisten Parasympathiker schon in den ersten Stunden wieder ins vegetative Gleichgewicht. Diesen Typ, der noch nicht Diabetiker ist und in den ersten Jahren lediglich mit einer Glukoseintoleranz zu kämpfen hat, an die Essvorgaben der gängigen Lehrmeinung zu binden, fördert allein die Interessen der Pharmaindustrie, nicht die des Patienten. Die Angst vieler Betroffener, sie würden mit einem fettreicheren Essen ihren gestörten Fettstoffwechsel unnötig bedienen, bestätigt sich nie. Am Ende unserer Schulungen waren neben einem stark verbesserten HbA1c auch die übrigen Laborwerte dieser Patientengruppe im grünen Bereich (3).

Bei den Neuzugängen in Diabetikerschulungen ist auch der andere Stresstyp auffällig, der vermutlich mit einem beständig erhöhten Cortisol-Spiegel zu kämpfen hat. Wenn die Betroffenen als Diabetiker diagnostiziert werden, sind sie in der Regel bereits manifest und gehören – auch in der Regel – zu den mehr oder minder entgleisten Sympathikern. Denen bleibt in Stress-Situationen „die Spucke weg“, sie greifen auffällig oft zur Wasserflasche, essen unkontrolliert Süßigkeiten, trinken Unmengen von Kaffee oder Cola und wirken häufig aggressiv. Bei sympathisch bedingten Spannungszuständen (siehe Fallbeispiel 2 im Download für Mitglieder) helfen kleinste Mengen hochglykämischer Kohlenhydrate, ein Bonbon, ein Stück Brot oder Obst oder ein koffeinhaltiges Getränk, notfalls alle zwei Stunden. Alkohol hilft auch, wäre im Zwei-Stundenrhythmus aber in anderer Beziehung kontraproduktiv. EinemSympathiker kommt die Empfehlung, sich „gesund“, also kohlenhydratbetont und fettarm zu ernähren, sehr entgegen. So isst er von sich aus sowieso. Möglicherweise taucht er deshalb so spät in den Diabetesschulungen auf, weil er in den Jahren zuvor schon compliant zur gängigen Lehrmeinung gegessen hat. Den bei diesem Typ stark schwankenden Blutzuckerspiegel bedient man am besten mit häufigen kleinen Kohlenhydratgaben, um den reizbaren Sympathikus zu dämpfen (2). Damit kann sein häufig sehr hoher Insulinbedarf in der Regel deutlich reduziert werden, in vielen Fällen sogar so weit, dass er allein mit einem Basalinsulin zurechtkommt. Auch in der Not isst der Sympathiker die Wurst grundsätzlich nur mit Brot. Ein kohlenhydratreduziertes, fettreiches Essen setzt durch seine sympathisch stimulierende Wirkung diesen Typ noch mehr unter Stress und verschlimmert sein Problem.

Bei vegetativ bedingten Problemen lohnt es sich immer, zuerst zu den beschriebenen Hausmitteln zu greifen, die jeder in seiner Küche vorrätig hat. Nur wenn die Maßnahme, mit speziellen Nahrungsmittelimpulsen gezielt auf das vegetative System einzuwirken, in den nächsten Stunden nicht hilft, sind die Erscheinungen nicht vegetativ bedingt, sondern ernsterer Natur. Dann ist es Zeit für den Einsatz der Apparatemedizin und dann erst sollte man über Medikamente nachdenken. Es sieht aus, als ob es im Gesundheitswesen ein immenses finanzielles Einsparpotenzial gäbe, wenn man bereits die nicht ganz Gesunden, die sich nicht wohl fühlen, mit einfachsten Mitteln behandeln und nicht von vorneherein als „Nervenbündel“ oder „Choleriker“ abtun würde. Es gäbe vermutlich sehr viel weniger chronisch Kranke.

Allgemeingültige Regeln für ein gesundes Essen kann es aufgrund individueller vegetativer Prägungen nicht geben. Die einen brauchen dies, die anderen brauchen das und wieder andere irgendetwas dazwischen. Verlassen wir uns einfach auf unseren vegetativen Sensor, der uns durch den Appetit eine genaue Bedienungsanleitung für die nächste Mahlzeit gibt. Paracelsus wusste es, Äskulap sowieso und jeder schlichte Bauer weiß es: „Wat dem enen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigul“. Was für den Einzelnen stimmt, bestimmt immer noch der Bauch, der es essen soll. Das ist die letzte und oberste Instanz. Vertrauen wir darauf, dass der Appetit auf Süßes oder Deftiges es jedem immer wieder richtet.

Quellenangaben

  1. Dörten Wolff: Nahrung statt Medizin. Edition Wolff, Hamburg 2005. ISBN 3-9809994-0-8
  2. Eigene Beobachtungen in Diabetikerschulungen
  3. Heilmeyer et al: Ernährungstherapie bei Diabetes mellitus Typ 2 mit kohlenhydratreduzierter Kost (LOGI-Methode). Internistische Praxis 2006. systemed Verlag, 2006, S. 181–191

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